Wege zur Lösung des Pflegenotstands in Deutschland finden

Deutschland steht vor einer Krise in der Altenpflege. Zu lange schon sind die Strukturen der Altenpflege hierzulande finanziell und personell ausgehungert, und eine Besserung ist nicht in Sicht. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Während die Zahl der alten und pflegebedürftigen Menschen steigt, gibt es immer mehr Menschen, die gerne zu Hause gepflegt werden möchten. Viele Familien fühlen sich moralisch verpflichtet, Familienmitglieder zu Hause zu pflegen, obwohl viele nicht in der Lage sind, dies allein zu schaffen. Ein gewisses Maß an Unterstützung kann durch die Beschäftigung von ausländischem Pflegepersonal erreicht werden. Diese Regelung kann jedoch aus verschiedenen Gründen problematisch sein. Zugewanderte Pflegekräfte haben oft keine ausreichende Ausbildung und müssen rund um die Uhr verfügbar sein, gleichzeitig verdienen sie weniger als den Mindestlohn. Ein Forschungsteam der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) hat sich mit solchen Pflegearrangements befasst und plant für den 11. und 12. März 2019 eine internationale Konferenz zum Thema Pflegenotstand.

Steigende Kosten, überforderte Angehörige, fehlendes Pflegepersonal und die zunehmende Komplexität des gesamten Systems sind die Hauptfaktoren für den anhaltenden Pflegenotstand in Deutschland. Nicht nur staatliche Einrichtungen, sondern auch private und öffentliche Pflegeorganisationen suchen im Ausland nach neuem Personal. Nach einer Untersuchung der Stiftung Warentest bieten mehr als 250 Vermittlungsagenturen Privathaushalten die Möglichkeit einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch ausländische Pflegekräfte an. Bisher kamen die zugewanderten Pflegekräfte vor allem aus Polen, aber auch Frauen aus anderen osteuropäischen Ländern wie Rumänien und der Slowakei werden für diese Form der Beschäftigung gewonnen. Sie leben mit der Familie unter einem Dach und kümmern sich um den Pflegebedürftigen, während einige von ihnen auch den Haushalt führen.

Nach einer Erhebung der Hans-Böckler-Stiftung sind in Deutschland rund 200.000 Pflegekräfte aus Mittel- und Osteuropa beschäftigt, doch die Dunkelziffer ist hoch. „Wir waren überrascht, wie weit verbreitet diese Pflegearrangements mit zugewanderten Arbeitskräften inzwischen sind“, sagt Professor Cornelia Schweppe von der JGU angesichts der Ergebnisse der dreijährigen Studie. „Die überwiegende Mehrheit dieser Jobs ist informell, das heißt, es gibt keinen geregelten Arbeitsvertrag. Die Arbeitszeiten sind zu lang und die Löhne sind niedrig. Jeder weiß das, aber es wird nichts dagegen unternommen.“ Dies liegt vermutlich daran, dass diese Regelungen im Interesse aller Beteiligten zu sein scheinen: Die Familien haben eine Lösung gefunden, die zugewanderten Arbeitskräfte werden besser bezahlt, als sie in ihren Heimatländern erwarten könnten, und der Staat kann das derzeitige Betreuungssystem beibehalten, anstatt Reformen durchzuführen, die unpopulär wären, weil sie teuer wären.

Beschäftigung von zugewanderten Pflegekräften durch Familien: Die Chemie muss stimmen

Die Untersuchungen von Schweppe und ihrem Team zeigen, dass die Tatsache, dass zugewanderte Pflegekräfte in der Regel nicht über eine entsprechende Ausbildung verfügen, für die Familienangehörigen kaum von Bedeutung ist. Viel wichtiger ist die zwischenmenschliche Ebene. „Die Chemie muss stimmen“, betonte Schweppe und verwies auf Erkenntnisse aus Interviews mit Familienangehörigen und zugewanderten Arbeitskräften.

Die Forscher haben nicht nur herausgefunden, dass diese Art von Betreuungsarrangements massiv zunimmt, sondern auch, dass sie ganz unterschiedliche Formen annehmen können. Beim klassischen Modell sind zwei Pflegekräfte beteiligt, die im Dreimonatsrhythmus abwechselnd die Pflege übernehmen oder nach Hause pendeln. Bei hohem Pflegebedarf sind die Familienangehörigen noch stark in die Pflege eingebunden. In anderen Fällen werden ortsfremde Familienangehörige hinzugezogen, um die ausländische Pflegekraft für eine Heimfahrt zu entlasten, oder es werden zwei zugewanderte Pflegekräfte gleichzeitig eingesetzt. „Das Konzept ist außerordentlich flexibel, um allen möglichen Bedürfnissen gerecht zu werden“, erklärt Dr. Vincent Horn, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Mitglied von Schweppes Team. Dass solche Arrangements so häufig sind, erklärt sich laut Horn dadurch, dass man die betreffende Person nur ungern in ein Pflegeheim abschiebt, obwohl die entsprechende Familie bei der Versorgung an ihre Grenzen stößt. „Die Angehörigen fühlen sich dem Pflegebedürftigen gegenüber in hohem Maße verpflichtet, was durch das schlechte Image der Pflegeheime zum Teil noch gefördert wird“, so Horn weiter.

Österreich und die Niederlande als positive Beispiele?

„Wir können aus unserer Studie keine allgemeinen Schlüsse darüber ziehen, was gute Pflege ausmacht. Dazu sind die Bedingungen in den einzelnen Familien zu unterschiedlich“, so Horn. Unbestritten ist aber, dass das deutsche System der Altenpflege ein Sammelsurium verschiedener Strukturen ist, das vor allem die Familien in die Verantwortung nimmt – und sie mit der Pflege allein lässt. Doch es geht auch anders: Österreich zum Beispiel hat 2007 die qualitätsgesicherte 24-Stunden-Betreuung auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Die Niederlande haben schon vor Jahrzehnten beschlossen, einen professionellen öffentlichen Pflegesektor zu schaffen und gleichzeitig den Familien die Verantwortung abzunehmen. „Heute verfügen die Niederlande über ein sehr gutes Netz an ambulanten Diensten und anderen Hilfen für Haushalte“, so Horn. Mit den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln und der derzeitigen Form der sozialen Pflegeversicherung in Deutschland wäre dies jedoch nicht möglich.

Die Zukunft der Altenpflege in Deutschland und international ist das Thema einer Fachtagung am 11. und 12. März 2019 in Mainz. Die Fachtagung „The Long-Term Care Crisis: Tapping into Labour Resources Within and Across National Borders“ wird sich mit der in vielen Industrieländern bestehenden Problematik befassen und nachhaltig wirksame Lösungen für die Zukunft vorschlagen – insbesondere mit Blick auf die Tatsache, dass die Verfügbarkeit von zugewanderten Pflegekräften in Zukunft begrenzt sein könnte. Das Symposium wird auch erörtern, wie eine qualifizierte häusliche Pflege organisiert werden kann und wie sich das Risiko von Gewalt gegen ältere Menschen minimieren lässt. Darüber hinaus werden sich die Teilnehmer mit der Frage befassen, wie die Arbeitsbedingungen fair gestaltet und auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden können und wie die Pflegesysteme in anderen Ländern funktionieren. Referenten aus den USA, Asien, Israel und Europa werden über den Pflegenotstand in ihren Heimatländern und die Hintergründe der grenzüberschreitenden Migration von Pflegekräften berichten. Die Fachtagung findet am Montag, 11. März, und Dienstag, 12. März, im Erbacher Hof, Grebenstr.24-26, 55116 Mainz, statt.

Die Fachtagung bildet den Abschluss des dreijährigen Forschungsprojekts „Entwicklung und Bedeutung transnationaler Altenpflegearrangements“, das von der Arbeitsgruppe Sozialpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der JGU in Zusammenarbeit mit der Radboud Universität Nijmegen in den Niederlanden durchgeführt wurde. Das Projekt wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Netherlands Organisation for Scientific Research (NWO) finanziert.